Die Odyssee by Lehmkuhl Tobias

Die Odyssee by Lehmkuhl Tobias

Autor:Lehmkuhl, Tobias [Lehmkuhl, Tobias]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 978-3-644-11591-0
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2013-08-13T04:00:00+00:00


In meinem Kurhotel konnte ich bei meiner Heimkehr die Bibliothek nicht nutzen. Dort tagte, wie auf einem Schild zu lesen stand, die «Grupo Ulisse», etwa zehn Leute, die im Kreis saßen. Was es denn damit auf sich habe, fragte ich an der Rezeption: «Psicologia», lautete die knappe Auskunft. Odysseus als Erforscher des Unbewussten? Warum nicht, dachte ich. Bewegte sich der Listenreiche nicht durch seltsame Traumlandschaften? Und war der Abstieg in den Hades nicht tatsächlich der Abstieg ins kollektive Unbewusste? Funktionierte nicht so die Psychoanalyse, dass man erzählte, was einem in den Sinn kam? Deswegen die vielen Wiederholungen und umständlichen Abschweifungen in der «Odyssee»! Ging es nicht schließlich darum, in verborgene Bereiche vorzudringen? Die Höhle des Polyphem? Das Reich des Lotosrausches? Aber natürlich: die Reise als Therapie! Jetzt hatte ich es, der Rollstuhlmann in Neapel, er war nicht irgendein Reisender, er war ein moderner Odysseus, er war, in seinem Gewand und mit dem Tuareg-Turban, auf einem Therapie-Trip!

Wie erleuchtet streifte ich später durchs abendliche Lipari, aß Pasta mit Kapern und Olivenpesto, beobachtete einen Hund, der ein totes Kaninchen im Maul trug, und schrieb, neben mir eine große Flasche Wein, in mein Notizbuch: «Ist das das wirkliche Leben? Ich steige den Fels hinauf, der über Lipari sich erhebt, ein abgeschlossenes Gebiet, das scheinbar nichts mit dem übrigen Ort zu tun hat. Kathedrale, Archäologisches Museum und eine Ausgrabungsstätte finden sich da. Ich wähne mich allein, die Kathedrale ist geschlossen, ebenso das Museum. Schwalben fliegen ihre abendlichen Runden. Dann gehe ich links um die Kathedrale, zu einem Garten mit Meerblick. Aber zuvor muss ich vorbei an einer Art Pförtnerhaus, darin sitzt ein alter Mann oder ein Mann, der alt aussieht, struppiges Haar, verlumpte Kleidung, die Tür geöffnet, nichts ist in diesem Raum außer dem alten Mann auf einem alten Stuhl an einem alten Tisch. Aus einem ebenfalls alten Fernseher an der Wand schreien Schmonzetten. Draußen, auf der Fensterbank, liegt einsam eine Hose, ob abgelegt oder zum Trocknen, lässt sich nicht sagen. Einige räudige Katzen lungern vor der Tür herum. Der alte Mann schaut kurz zu mir heraus, dann starrt er wieder vor sich hin, ohne das Geschrei aus dem Fernseher zu beachten. Ich gehe ein paar Schritte weiter und blicke in den zweiten Raum des Pförtnergebäudes. An den Wänden hängen überall Kruzifixe und Madonnen, ein schmales Holzbett steht da, und darauf liegt ein weiterer alter Mann. Er wirkt noch borstiger und bärtiger, seine Füße stecken in löchrigen, gräulichen Socken. Er schaut an die Decke und scheint mich nicht zu bemerken.»

Um mich herum herrschte nun wieder die Wirklichkeit des Tourismus, die der atmungsaktiven, regendichten Outdoorkleidung, abendlich durchsetzt von legeren Kleidchen und Mützen, auf denen «Captain» stand, T-Shirts mit der Aufschrift «Guru». Ein Cocktail aus Sonnencreme und Bier.

Mir fiel ein Satz aus Tucholskys «Pyrenäenbuch» ein: «Es gibt dumme Andenken zu kaufen, und das Ganze erinnert ein bisschen an die Sächsische Schweiz. Die Leute auch: geschwätziges, naturkneipendes Kleinbürgertum.» Nein, er war ganz und gar nicht gut gelaunt, als er durch die Berge reiste. Aber weit entfernt von der Wirklichkeit war er sicher auch nicht.



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